Dienstag, 19. September 2023

Von Albert Einstein zum Strommarkt: Wer ist hier smart?

Die Daniel Düsentriebs - We love these guys!

1874 hatte im Städtchen Tours an der Loire ein französischer Mittelschullehrer eine geniale Idee: Augustin Mouchot erfand eine Maschine, die Sonnenenergie in mechanische Dampfkraft umwandelt. Ein riesiger, umgekehrter Lampenschirm aus Spiegeln konzentrierte Sonnenenergie auf einen Metallbehälter worin Wasser verdampfte. Zu seinem grossen Erstaunen reichte die Energie, um eine 0.5 PS-Dampfmaschine zu betreiben, die wiederum mechanische Antriebsenergie für eine Zeitungspresse lieferte. Voilà, erneuerbare Energie vor Ort!

Energie vor Ort, der parabolische Solarkonzentrator von Augustin Mouchot. Bild Alamy

Spannend ist auch der französische Zeitgeist im 19. Jahrhundert. Die Angst ging um, die Kohleversorgung könnte demnächst versiegen. Das "Ende der Kohle" käme einer gesellschaftlichen Katastrophe gleich, denn Kohle war Treiber der industriellen Revolution und des Wohlstandswachstums. Die Solar-Dampfmaschine Augustine Muchot's war somit ein Hoffnungsschimmer, eine Erlösung vor der Abstiegsangst. Augustine Muchot erregte Aufmerksamkeit und gewann viele öffentliche Preise!

Doch es ward ganz anders: In Frankreich kam es nie zum befürchteten Kohlemangel und 40 Jahre später dominierten neue Energieträger die Weltgeschichte: Erdöl und Erdgas, mit doppelt so hoher Energiedichte wie Kohle, und zudem einfacher zu transportieren via Pipelines, Tanker und Energieversorgungsnetzen.

Sonnen-Photonen und Energiewende

Parallel zur Antriebswende mit fossilen Brennstoffen fand im 19. Jahrhundert eine Kommunikationswende statt, sozusagen eine "viktorianische Internetrevolution": Die Erfindung des Telegraphen schlug ein wie eine Bombe und veränderte die Strukturen in vielen Industrien. Es entstanden neue überregionale, gar internationale Geschäftsmodelle. Endlose Kilometer Telegraphennetze wurden verlegt inklusive transatlantischer Kabel. Allerdings verrosteten diese Kabel schon nach kurzer Zeit. Also mussten dringend bessere Kabel her.

Der Engländer Willoughby Smith experimentierte mit Selenium und fand merkwürdigerweise heraus, sein neues Kabel leitet bei Tageslicht besser als in der Nacht. Erst 35 Jahre später lieferte Albert Einstein eine Erklärung dazu: Licht besteht nicht aus Wellen, sondern Photonen, und Photonen können Elektronen wegschubsen, wenn sie aufeinanderprallen.

1905 Albert Einstein, damals Angestellter im Schweizer Patentamt.

Für diese erstaunliche Erkenntnis erhielt Herr Einstein 1921 den Nobelpreis. Doch bis es kommerziell genutzt werden konnte, dauerte es noch eine Weile. 26 Jahre später experimentierte Bell Laboratories mit Sand, also Silikon-Kristallen, und entwickelte daraus einen Transistor. Diese Erfindung war gigantisch, denn es war der Anfang des Computerzeitalters!

Aber das ist erst die halbe Geschichte: Zwei der Bell Labs-Angestellten, Calvin Fuller und Gerard Pearson, modifizierten die Silizium-Kristalle so, dass ein Kristall zu viele Elektronen besass und ein anderer Kristall zu wenige. Als sie die beiden Kristalle mit einem Leiter verbunden haben, floss Strom, allerdings erst, als die Sonne darauf schien und die Lichtphotonen die Elektronen wegschubsten. Genial, die Photovoltaik war geboren! Der erste Kunde? Die NASA. Sie nutzten die neue Methode der vor Ort-Energieerzeugung in ihren ersten Satelliten.

Vanguard 1 mit Silikon-Monoxid PV-Zellen mit 4% Wirkungsgrad. Der 1.46 kg schwere TV-Satellit sendete dank Solarenergie ganze sechs Jahre lang (1958-1964).

Die Sonnenlobby versus die Erdöllobby

Das waren faszinierende Entdeckungen, doch in was investierte die Menschheit? Nicht in die geniale Nutzung der Sonnenenergie vor Ort, sondern in eine zentrale Versorgung fossiler Energie. Was waren die Gründe dafür?

Team "Drill, baby, drill"

Fossile Brennstoffe haben gegenüber solarer Energie einen grossen wirtschaftlichen Vorteil: Sie sind ein Stoff, eine Handelsware, die verkauft werden kann, sobald Nachfrage besteht. Es lohnte sich also für die Öl-Männer die Nachfrage nach ihrem Stoff zu erhöhen!

Der Marktpreis bestimmt dabei das Angebot, also die Fördermengen. Denn steigt der Preis, lohnt sich der Einsatz kostenintensiverer Fördermethoden wie Fracking, Oil Sand Mining oder Tiefseebohrungen.

Diese Kopplung zwischen Preis und Fördermenge ist der Hauptgrund weshalb sich "Peak-Oil" bisher nicht manifestiert hat. Diese These besagt folgendes: Da es nur eine endliche Menge geologischer Energiereserven geben kann, muss die Fördermenge nach Erreichen des technischen "Fördermaximums" exponentiell abfallen, was zu einem schnellen Zusammenbruch der Weltwirtschaft führt. Offensichtlich unterschätzte die Peak-Oil-Theorie die Entwicklung neuer Fördertechnologien. Heute werden alte Öl- & Gasfelder wieder rentabel ausgebeutet und selbst technisch schwierig erschliessbare Felder wurden attraktiv. Alles eine Frage des Preises!

Förderkonzessionen, Fördertechnik und Energieverteilsysteme befinden sich in relativ wenigen Händen und die führenden Köpfe dieser Branche scheuten sich nie, ihre Macht einzusetzen. Das fossile Energiegeschäft war nie Fairplay oder ein freier Markt. Eindrückliches Negativbeispiel ist die absurde Gebietsaufteilung im Mittleren Osten (Syrien, Irak, Jordanien, Armenien etc.) aus dem Jahr 1916, welche der Engländer Mark Sykes und Franzose François Georges Picot mit Blick auf ihre nationalen Energieinteressen aushandelten, ohne Rücksicht auf natürliche Grenzen, Ethnien und historisch gewachsene Strukturen. Ein aktuelles Negativbeispiel sind die obszönen Beträge an Petrodollars, welche gegenwärtig in den Europäischen Fussball fliessen, um die Sonderinteressen der Familie Saud zu erfüllen.

Team "Sonne"

Die Ölkrise der 70er Jahre in Folge des Nahostkonflikts, kombiniert mit der Peak-Oil Hypothese versetzten die westliche Welt in einen Schockzustand. Mangellage, Existenz- und Abstiegsängste, Vertrauensverluste in Politik und Wirtschaft waren die Folge, die bis heute Nachwirkungen zeigen. Politik und Gesellschaft reagierte affektiv und suchte nach schnellen Lösungen. Ökonomie-Propheten und Polit-Populisten stiegen auf wie Phönix aus der Asche.

Autofreier Sonntag in der Schweiz während der Ölkrise 1973. Bild Ullstein

Gleichzeitig publizierte der Club of Rome 1972 eine Systemtheorie, welche eindrücklich die Gefahren des exponentiellen Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums sowie die Belastbarkeit unserer Ökosysteme veranschaulichte. Der Bericht kam heraus nach einem unheimlichen Jahrzehnt der Nukleartechnologie. Der kalte Krieg bescherte ein nukleares Waffenarsenal, den AKWs fehlten funktionierende Notfallsysteme und einige Schildbürger übertrafen sich selbst an Dreistigkeit: Pläne lagen auf dem Tisch der Ingenieure, den neuen Panama-Kanal mit Atombomben freizusprengen.

Unter all diesen Eindrücken wurde der Wunsch nach Symbiose zwischen Gesellschaft und Natur laut. Neue Wertegemeinschaften entstanden. Die Erfindung der Photovoltaik erhielt in diesem Zug ihre Lobby, das Team "Drill, baby, drill" erhielt unbequeme Gegner wie den WWF, Greenpeace und ab den 80ern die Grünen.

Die Sonnenlobby hatte allerdings einen technischen Nachteil gegenüber der fossilen Lobby. Die Sonne kann nicht 24/7 liefern, sondern nur zwischen Sonnaufgang und Untergang, und wenn der Himmel wolkenfrei ist. Die Herausforderung ist die Speicherung und Umverteilung von Sonnenenergie. Hätte unsere Gesellschaft mit derselben Inbrunst in diese Herausforderung investiert, wie in fossile Fördertechnologien oder Kernspaltung, wären wir heute anderswo! Denn an Tüftlern und Erfindern wie Augustine Mouchot mangelt es uns nicht. Es gibt fantastische Speicherideen inklusive elektro-chemische, thermische, Druckluft-, Pump-, Schwerkraft- und Wasserstoffspeicher.

Schwerkraftspeicher mit Betonblöcken der Tessiner Firma Energy Vault, Bild: Energy Vault

Mit sehr kurzen Spiessen ins grosse Gefecht

Das Team Sonne hat gravierende Marktnachteile gegenüber anderen Energieanbietern:

Erstens sind solare Photonen keine Handelsware, sondern ein freies Gut. Für die Photonen braucht es keine Förderkonzession, Fördertechnologien, Raffinerien, Verteilsysteme und das damit verbundene "Big Money", Gewinnbeteiligungen, Steuereinnahmen usw. usw. Der Solarenergiemarkt ist ein Abnehmermarkt und im Vergleich zur fossilen Wirtschaft klein, finanzschwach und komplett verstreut.

Zweitens verdient die Investorin einer Photovoltaik-Anlage nur indirekt: Entweder sie verbraucht ihre Solarproduktion selbst und kauft entsprechend weniger Netzenergie ein oder die Solarenergie wird an Dritte verkauft, wobei der Abnehmer entweder das lokale EW oder ein Energie-Grossist ist. Das Schweizer Gesetz (Stand 2023) ermöglicht es den Prosumern nicht, ihren Stromertrag direkt an andere Endverbraucher zu verkaufen.

Drittens hängt die solare Energieproduzentin am Tropf des regionalen EWs. Das EW bestimmt den Vergütungstarif für lokal produzierten Solarstrom gemäss Artikel 15 im Energiegesetz. An diesem Gesetzestext hat die alte Kraftwerkslobby ganze Arbeit geleistet. Der Artikel besagt nämlich, dass sich der Vergütungspreis für lokal erzeugten Solarstrom nach den "vermiedenen Kosten des Netzbetreibers für die Beschaffung gleichwertiger Elektrizität" richten muss.

Lokaler Solarstrom wird also mit Börsenstrom gleichgesetzt. Aber ist das fair? Wohl kaum, denn an der Börse werden Angebote anonym eingereicht und nur Mengen und Gebotspreise zählen. Lokale Stromherkunft und umweltverträgliche Technologie ist der Börse schnurzpiepegal. Besitzer veralteter Kraftwerkstechnologien erhalten dadurch häufig einen relativen Vorteil, vor allem wenn sie stark subventioniert wurden (i.bes. Nuklear-, Kohle- & Wasserkraftwerke), buchhalterisch bereits abgeschrieben sind, und der Welt Schäden zufügen, für die sie nie gerade stehen müssen.

EWs kaufen Börsenstrom also ein, ohne zu wissen, wie effizient und sauber er produziert wurde und wo er ins europäische Übertragungsnetz einspiesen wird. Deshalb wurde parallel zur Börse ein Handel mit Herkunftsnachweisen für nachhaltig produzierten Strom eingerichtet. Der Erwerb von Herkunftsnachweisen gibt den EWs die Möglichkeit, dem grauen Börsenstrom einen Grünanstrich zu verpassen und sie als "grüne Stromprodukten" anzupreisen. Das sind Good News für zweifelhafte Kraftwerke, denn mit diesem System sind sie aus dem Schneider: Dank der Anonymität an der Börse und den Herkunftsnachweisen bleibt ihnen der Marktzugang ungehindert erhalten.

Herkunftsnachweise bzw. grüne Stromprodukte verkommen so zu einer Art Ablasshandel für klimabesorgte Bürger in der Grundversorgung oder Grossverbraucher mit CO2-Zielvorgaben. Gegenüber solarer Energie vor Ort sind Graustrom und grüne Stromprodukte in vielerlei Hinsicht minderwertig: Zentrale Kraftwerke belasten die Übertragungsnetze massiv stärker und sind Natur-, Atmosphäre- und Ressourcen-belastender. Die Qualität des Stroms wird bei der gesetzlichen Vergütung des Solarstroms ausgeklammert.

1:0 für das Team Drill, Baby, Drill!

Über das Stöckli gestolpert

Gesetze bestimmen bekanntlich das Parlament. Im Gesetzgebungsprozess lobbieren die Kraftwerksbetreiber, die Netzwerkmonopole und das Team "Drill, baby, drill" seit über 100 Jahren.

Die erste netzgekoppelte Solaranlage der Schweiz wurde 1979 in Betrieb genommen, ausgerechnet vom Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung in Würenlingen (meinem Heimatort 😊). Doch erst im Zuge der unaufhaltsam fortschreitenden globalen Klimakatstrophe hat die Schweizer Solarlobby an Einfluss zugelegt. Trotzdem hat sie es bis heute nicht geschafft, die Spielregeln im Strommarkt fundamental zu verändern.

Die vollständige Öffnung des Strommarktes, hat der Ständerat zuletzt im Juni 2023 wieder blockiert, i.bes. auch aufgrund der Interessenvertretung regionaler EWs (siehe Diskussion hier).

Der Ständerat: Letzte Bastion für Partikularinteressen oder Denkschmiede der Zukunft? Bild Parlamentsdienste 3003 Bern

Weiterhin erhalten also nur Grossverbraucher (>100'000 KWh/Jahr) freien Netzzugang. Sie dürfen Energie von einem Lieferanten ihrer Wahl einkaufen. Für Prosumer, also Grundeigentümer mit Solaranlagen, bleibt die freie Netznutzung verboten. Sie haben keine freie Partnerwahl weder beim Kauf noch beim Verkauf von Strom. Wäre es nicht schön, Sie könnten ihren Überschussstrom an ihre pensionierten Eltern überschreiben, einer gemeinnützigen Organisation spenden oder ihrer Tochterfirma gutschreiben, oder ihr Auto mit Strom vom Bauern aus der Region laden? Einfach per Mausklick eine Energietransaktion abwickeln, wie es mit Twint möglich ist. Oder den Metzger mit seinem Solarstrom bezahlen statt mit Geld … wäre doch genial. Mit smarten Gesetzen entstehen ganz neue Märkte und Chancen.

Author: Marc Holthuizen; Quellen: Charles C. Mann (The Wizard and the Prophet: Science and the Future of this Planet), Bertram Brökelmann (Die Spur des Öls: Sein Aufstieg zur Weltmacht).

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