Montag, 19. Februar 2024

Über Stromeinkauf, Propheten & Börsen

Wieso kann Strom sündhaft teuer werden? Und dann werfen uns Stromproduzenten ihren Strom sogar mit negativen Preisen nach! Wie ist das möglich? Der Strommarkt scheint mysteriöse Wege zu gehen, "Energiewende-in-the-making" sozusagen. Wir erläutern hier, wie Strom eingekauft wird und wie der Strompreis entsteht.

Etwas Grundlagenwissen brauchen Sie, um zu verstehen, wie Strom den Weg an unsere Steckdosen findet. Lesen Sie dazu unseren Beitrag Strommarkt in 7 Minuten erklärt. Im diesem Teil II unserer dreiteiligen Serie werfen wir einen Blick auf den Stromeinkauf:

Im Kern dreht sich alles um die Netzspannungshaltung, welche die diversen Netzleitstellen in ganz Europa sichern. In der Schweiz besorgt dies die Swissgrid. Damit unser Netz zuverlässig läuft und nie ausfällt, wertet sie frühzeitig die Daten aus dem Stromhandel aus. Jeder Strom-Deal zwischen Stromproduzenten und Energiekäufern muss deshalb als Handelsfahrplan bei der Swissgrid vor dem Lieferdatum registriert werden. Täglich werden tausende Fahrpläne eingereicht.

Ein Handelsfahrplan ist in 15 Minuten-Perioden gegliedert und enthält deshalb 96 Energietransfers pro Tag. In anderen Worten, ein Stromeinkäufer muss pro Netzanschluss 35040 Strommengen in einem Jahr beschaffen. Den 15-Minutenbedarf kann der Einkäufer vorab natürlich nicht exakt wissen, sondern nur schätzen. Gekauft wird deshalb eine Fahrplan-Prognose.

Dies hat zur Folge, dass die effektiv bezogene Strommenge immer etwas von der Handelsmenge abweicht. Diese Mehr- oder Mindermengen muss die Swissgrid mit Regelenergie ausgleichen, weil sonst unser Strom zu flackern beginnen würde und elektrische Geräte Schaden nehmen könnten. Diesen Service verrechnet die Swissgrid den Stromeinkäufern als Ausgleichsenergie.

Das Gesetz sorgt dafür, dass Ausgleichsenergie immer mehr kostet als Strom am Markt. Damit soll ein ökonomischer Anreiz geschaffen werden, die Handelsfahrpläne möglichst exakt zu bestimmen und einzuhalten.

Aber wie soll das denn gehen? Wer weiss denn schon, wieviel Strom er in welcher Viertelstunde prognostizieren soll? Ganz schön schwierig!

Stromeinkäufer bei der Arbeit: Verbrauchsprognose, Preisprognose, der Griff nach der Zukunft. Es gibt dogmatische Mystiker, kaltschnäuzige Spekulanten und solche, die überzeugt sind, ein Quäntchen schlauer als alle anderen zu sein.

Das Erstellen von Prognosen erfordert Wissen, wie die Elektrizität in Haushalt- und Betriebsprozessen, Computer, Fahrzeugladestationen, Gebäudetechnikanlagen, Öfen, Kompressoren usw. verbraucht wird. Für die meisten Verbraucher ist das allerdings eine Black Box. Ein Energiemonitoring bringt Licht in die Sache. Besonderes Augenmerk erhalten dabei die Hauptverbraucher, das ISO50001 Energiemanagement nennt sie SEU (Significant Energy Users).

Ohne konkretes Wissen aus dem Energiemonitoring fehlt die Grundlage, robuste Prognosen zu erstellen. Man kann dann auf Schätzungen ausweichen und mittels Normen, Simulationen und Statistik hypothetische Verbraucherprofile, Trends und Einflussfaktoren ableiten und historische Daten in die Zukunft extrapolieren. So machen es bisher die EWs und Gebäudeplaner (SIA-Architekten). Sie schätzen zukünftige Stromverbräuche mehr oder weniger erfolgreich ab.

Statt ein Prognose mittels Energiemonitoring oder Schätzungen zu erstellen, kann der Stromeinkäufer auch einfach nur spekulieren. Bei der Spekulation ist für den Einkauf nicht die real benötigte Energiemenge ausschlaggebend (dies wird als Asset-backed Trading bezeichnet), sondern die Prophezeiung des Einkäufers, wie sich nach seiner Meinung die Energiepreise entwickeln werden. Wird Gewinn gerochen, wird mit sehr viel mehr Energie gehandelt, als nötig wäre. Man nennt dies spekulativen Eigenhandel.

Spekulative Händler pokern auf Zeit, ohne dass es für den Einkauf einen realen Bedarf gibt. Es wird ein fiktiver Fahrplan erzeugt. Solange der Fahrplan auf der Gegenseite keinen realen Abnehmer oder Produzenten hat, hat er offene Positionen. Werden diese nicht vor dem Lieferzeitpunkt geschlossen, muss die Netzleitstelle die Handels-Asymmetrie mit Regelstrom ausgleichen.

Netzleitstellen wollen natürlich nicht die Fehlkäufe verzokter Spekulanten ausbaden müssen. In Europa müssen deshalb die offenen Positionen im spekulativem Eigenhandel vor dem Lieferzeitpunkt geschlossen werden, egal zu welchem Preis. Nicht so in der Schweiz! Zur Freude der schweizer Spekulanten fehlt das Gesetz, offene Positionen schliessen zu müssen. Dadurch trägt die Swissgrid das Spekulationsrisiko mit und muss entsprechend höhere Regelstrom-Reserven einplanen, welche über alle Stromkunden finanziert werden (und nicht nur die Spekulanten).

[Studie der Uni St. Gallen:] Für Alpiq erhalten wir ein Volumen im spekulativen Eigenhandel, das in etwa dem 20-24 fachen der jährlichen Produktion entspricht, für Axpo erhalten wir ca. das 12-16 fache ihrer jährlichen Produktion, und für BKW ca. das 8-10 fache.

Anhand der geschätzten Verluste im spekulativen Eigenhandel und der im Rahmen der Segmentberichterstattung publizierten EBIT Zahlen schliessen wir, dass im Zeitraum 2009 – 2018 eine Quersubventionierung des spekulativen Handels durch das Asset-backed Trading stattgefunden hat.

Karl Frauendorfer, Robert Gutsche, Gido Haarbrücker, Claus Liebenberger, Michael Schürle (ior/cf-HSG, Universität St. Gallen, 2020)

Das europäische "Offene Positionen-Gesetz" belebte den kurzfristigen Stromhandel. An der sehr hocheffizienten Intraday-Börse können offene Positionen bis sprichwörtlich fünf Minuten vor Lieferung geschlossen werden. Der Markt ist vor allem für Wind-, Solar- und Speicherkraftwerke interessant, welche ihren Strom im ganzen EU Binnenmarkt verkaufen dürfen. Dieser Intraday-Handel entwickelt sich sehr positiv in Europe. Im Gegensatz zur Schweiz, wo der Intraday-Handel wegen der Gesetzeslücke der "offene Positionen" und dem fehlenden Stromabkommen eine Todgeburt blieb.

Wie dem auch ist, Stromeinkauf verursacht Kosten, ob fairer Asset-basierter oder spekulativer Handel. Ein weitsichtiger Stromeinkäufer überlegt sich deshalb seine Einkaufsorganisation gut. Dazu schauen wir uns nun zwei Konzepte an:

Der geniale Strom-Shopper

Zuverlässiger als zukünftige Energieverbräuche zu schätzen, ist eine smarte Echtzeitlösung. Die Idee ist folgende: Strom wird ja immer auf einem Grundstück verbraucht. Kann vor Ort der Stromverbrauch so beeinflusst werden, dass der Handelsfahrplan immer eingehalten wird, fällt beim Systemdienstleister, also der Netzleitstelle, kein Regelenergiebedarf an. Der Konsument verhält sich dann systemdienlich und, weil er Ausgleichsenergie-Rechnungen vermeidet, auch marktdienlich.

Den Stromfluss auf dem Grundstück muss ein Lastmanagement System kontrollieren. Dieses misst den Stromverbrauch in Echtzeit und vergleicht es mit dem Handelsfahrplan. Werden Abweichungen festgestellt, gleicht es die Differenz aus, zum Beispiel indem es Strom in einen Akku speichert oder diesen entlädt. Da das Lastmanagenet den Stromfluss im Areal selbst steuert, wird es Demand Side Management genannt.

Das Lastmanagement kann neben Speichern auch andere Flexibilitäten nutzen. Mit Flexibilitäten sind Anlagen gemeint, die zeitversetzt betrieben werden könnten, ohne dass es die Nutzer beeinträchtigt. Geeignete Anlagen für ein solches "Load Shifting" sind Lüftungen, Heisswasser- oder Druckluftspeicher, Heizwärmepumpen und Klimaanlagen.

Das Lastmanagement kann zudem lokale Solar- & Windstromproduktion abregeln, falls der Eigenstrom nicht im Areal benötigt wird und eine Netzeinspeisung Probleme bei der Netzspannungshaltung verursachen würde. Die Abregelung könnte die Netzleitstelle sogar finanziell entschädigen, da dies günstiger wäre, als Energie in einem Regelkraftwerk zu kaufen. Zurzeit steht diese Option aber nicht zur Debatte, da der Bund aufgrund der Energiepolitik dem massiven Ausbau der Zukunftstechnologie PV-Produktion den Vorrang gibt.

SaaS-Lösung für das Energiemanagement auf Grundstücken

Hinweis: Ein Lastmanagement System kann nicht nur marktdienlich, sondern auch netzdienlich eingesetzt werden, indem es Spitzenlasten senkt (Peak-Shaving). Dadurch balastet der private Grundstückanschluss das öffentliche Netz weniger stark und verursacht dem EW weniger Trafo- und Leitungsengpässe. Zum Dank dafür stellt das EW dem Grundstückbesitzer geringere Netzanschlusskosten (Leistungspreis) in Rechnung.

Im Idealzustand ist ein Stromkonsument von Strommarkt vollkommen unabhängig. Ist er nämlich autark, trägt er kein Marktrisiko mehr. Ein Prosumer verbraucht nicht nur Strom, sondern erzeugt ihn gleich selber. Die eigenen erneuerbare Energieanlage reduziert das Prognose-/Preis-/Ausgleichenergie-Risiko. Ein Prosumer nutzt das Netz bedeutend weniger für Stromeinkäufe und senkt seine Netzgebühren, Anschlusskosten, staatliche Abgaben und Steuern.

Der "geniale Strom-Shopper" senkt nicht nur durch Eigenproduktion und Lastmanagement sein Risiko und seine Kosten, er geht noch einen Schritt weiter: Er kooperiert. Mehrere Grundstücke und Areale können einen Zusammenschluss bilden, entweder physisch oder virtuell.

Physische Zusammenschlüsse können aber nur benachbarte Grundstückeigentümer organisieren, weshalb das Konzept limitiertes Potenzial hat. Virtuelle Stromgemeinschaften sind hingegen beliebig skalierbar und birgen grosses Synergiepotenzial. Die Kollaboration erfolgt Regionen-übergreifend über eine Internet-Plattform.

Ein virtueller Zusammenschluss ist eine Art Sharing-Economy mit gemeinsam genutzten dezentralen Stromproduktionsanlagen, Speichern und flexiblen Anlagen sowie einem kollektivem Stromeinkauf. So wird der Solarstrom-Eigenverbrauch maximiert und die Netzstrombezüge minimiert.

Eine virtuelle Stromgemeinschaften verbucht sich Strom gegenseitig über eine gemeinsame Bilanzgruppe. Die einzelnen Teilnehmer müssen dazu ihren SmartMeter bei der Bilanzgruppe anmelden. Danach wird der Strom nicht mehr vom EW abgerechnet, sondern von der Stromgemeinschaft. Diese sorgt dafür, dass innerhalb ihrer Bilanzgruppe der Stromverbrauch sowie die Stromherkunft stets ausgeglichen ist und sie die Netzspannungshaltung nicht unnötig beeinträchtigt.

In der Schweiz sind virtuelle Kraftwerke praktisch unmöglich. Gründe?

Erstens brauchen die Teilnehmer freien Markt- bzw. Netzzugang, was wegen der fehlenden Strommarktliberalisierung nur bei relativ wenigen Grossverbrauchern der Fall ist.

Zweitens benötigt die virtuelle Stromgemeinschaft eine eigene Bilanzgruppe. Die Infrastruktur für den Betrieb einer Bilanzgruppe ist enorm komplex inkl. Swissgrid-Prozessintegration, Fahrplanmanagement, Inkasso, IT-Systeme, Fachkräfte usw. Die Einstiegshürde ist sehr hoch. In der Praxis könnten eine virtuelle Stromgemeinschaft nur etablierte Schweizer Grossisten anbieten. Doch die haben andere Interessen (eigene Kraftwerke, Aktionäre sind Kantone). Innovative virtuelle Stromunternehmen könnten bei diesen Grossisten zwar eine Unter-Bilanzgruppe gründen, doch das wäre kein fairer Wettbewerb.

Leider ist der hier beschrieben "geniale Strom-Shopper" nur eine Fiktion. Aber er ist das Zukunftsmodell an dem sich zahlreiche Überlegungen, Konzepte der modernen Energiepolitik in der ganzen Welt orientieren. Zurzeit allerdings nicht so in der Schweiz. Hier dominiert der "heuristische Strom-Shopper" das Geschehen in Politik und im Strommarkt.

Der heuristische Strom-Shopper

Wer keine eigene Stromproduktion besitzt, ist vom Markt abhängig. Es gibt grundsätzlich zwei Risiken beim Einkauf: Das Mengenrisiko und das Preisrisiko.

Beim Mengenrisiko geht es darum, nicht zu viel und nicht zu wenig einzukaufen. Der Stromfahrplan wird aus wirtschaftlichen Gründen möglichst exakt prognostiziert. Da Stromverbrauch ein komplexes Thema ist, basieren die Prognosen auf Heuristiken, also Faustregeln. Die Heuristik, welche Elektrizitätswerke nutzen, sind Standardlastprofile (SLP).

Jedem Netzanschlussnehmer beziehungsweise jedem Messgerät des EWs wird ein SLP zugewiesen. Alle SLP werden anschliessend aufgrund historischer Werte und Einflussfaktoren gewichtet und addiert. So entsteht ein aggregierter Fahrplan für die EW-Bilanzgruppe. Gemäss dieser Fahrplanprognose wird dann Strom eingekauft.

Die SLP-Methode birgt diverse Unsicherheiten, z.B. die Wahl des sinnvollsten SLP für jedes Messgerät oder die Veränderungen der Grundstücknutzung, Verbrauchs- & Produktionsanlagen über die Zeit. Statistisch gesehen wird die SLP-Methode bei grosser Anzahl Netzanschlusspunkte zuverlässiger, weil sich viele kleine Fehlschätzungen gegenseitig auslöschen (siehe dazu die Grafik "Fahrpläne aggregieren" im Beitrag Strommarkt in 7 Minuten erklärt).

"Heuristische Strom-Shopper" verstehen ihren Stromverbrauch nicht im Detail und managen ihn auch nicht. Sie wollen es auch nicht, denn die Idee ist es ja gerade, den Prognoseaufwand minimal zu halten. Sie nehmen deshalb Kosten für Prognosefehler und Ausgleichsenergie gleich mit ins Budget.

Freie Wahl seines Stromlieferanten

EWs müssen allen Bürgern eine Grundversorgung anbieten. Den Strom dafür kaufen sie weitgehend am Markt ein. Dadurch übernehmen sie das Marktrisiko für ihre Kunden. Weil sich aber viele EWs keinen eigenen professionellen Stromeinkauf leisten können, delegieren sie diese Aufgabe an Grossisten (z.B. AXPO, ALPIQ), die wiederum gewinnorientierte Unternehmen mit eigenen Chancen/Risiken-Abwägungen, Motivationsstrukturen und Kraftwerksinteressen sind.

Macht ein EW eine falsche Verbrauchsprognose für seine Kund*innen und handelt der Grossist beim Einkauf fahrlässig, kann ein Schaden entstehen. Die Kosten werden dann auf die Preise der Grundversorgung draufgeschlagen. Deshalb kann der Energiepreis von EW zu EW anders ausfallen.

Leider ist es den Schweizer Kunden mit einem Verbrauch unter 100MWh/Jahr nicht erlaubt, zu einem Stromlieferanten zu wechseln, welcher Interessen verfolgt, die einem persönlich besser gefallen. Das will die gegenwärtige Classe Politique nicht.

Heuristische Strom-Shopper kaufen ihren Strombedarf am Markt and und produzieren nicht im eigenen Netz. Dadurch ist ihr Marktrisiko maximal. Unerwartete Ereignisse wie Wetterkapriolen, Krieg, Epidemien oder eine Börsen-Hausse/Baisse verursachen Kursschwankungen. Die Preisabersicherung (mittels Call- und Put-Optionen) ist Teil dieser Herausforderungen. Das "Einhegen des Risikos" kostet. Das Fahrplan- & Risikomanagement kostet. All dies bezahlen am Ende die EW-Kunden.

Solange der Energiepreis relativ tief bleibt und genügend Energie verfügbar ist, stört dies auch niemanden. Energieeffizient und schlank wird dieses System aber natürlich nicht. Es basiert ja auf einer "Verschwendungsidee" und kann nur durch ein Überangebot an Energie existieren.

Strompreisentwicklung Schweizer Elektrizitätswerke im Jahr 2024. Die Erklärung für die steigenden Strompreise erhalten sie nachfolgend im Bericht. Bild SRF

Das spaltet die Schweizer Energiepolitiker*innen in zwei Mannschaften:

  • Von rechts nach links spielt das Team "Consumer": Netzstromangebot erhöhen!

  • Von links nach rechts spielt das Team "Prosumer": Netzstromnachfrage senken!

Heute noch Zeit weiterzulesen? Hier lang:

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